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Titelthema

Zuhören zwischen den Gleisen

Titelthema - Zuhören zwischen den Gleisen
Der Hamburger Zuhör-Kiosk an der U-Bahn-Haltestelle Emilienstraße © Achim Multhaupt

Kioske sind Nahversorger, Treffpunkte, Anlaufstellen für jede und jeden. In Hamburg sogar für alle, die Sorgen haben oder einfach mal reden wollen: am Zuhör-Kiosk. Ein Interview mit Betreiber Christoph Busch

01.07.2023

Herr Busch, Hamburg ist sicher nicht die Kiosk-Hauptstadt Deutschlands, aber hier entstand Ende 2017 der erste Zuhör-Kiosk. Was war Ihre Idee?

Ich bin an der U-Bahn-Station Emilienstraße ausgestiegen, habe den Kiosk zwischen den Gleisen gesehen, und ein Schild, dass er zu mieten ist. Da habe ich nicht lange nachgedacht. Mir war nach Abenteuer. Also habe ich dort angerufen und dachte, dass ich diesen Ort zum Schreiben nutze. Während ich mich dann dort eingerichtet habe, habe ich außen ein Plakat angebracht, dass ich auch gerne zuhöre. Ein Autor braucht ja Geschichten. Das ist unheimlich gut bei den Leuten angekommen. Nach drei oder vier Tagen – das war im Januar 2018 – kam ich nicht mehr zum Schreiben, weil so viele Menschen den Wunsch hatten, mir etwas zu erzählen.

An dieser Stelle hätten Sie sagen können: Experiment gescheitert, ich mache den Laden dicht. Stattdessen haben Sie sich ein Team an Zuhörern aufgebaut.

Zunächst habe ich ein halbes Jahr intensiv zugehört und dabei viel gelernt über mich, meine Gefühle und die Menschen. Montags bis freitags jeden Tag sechs Stunden. Dann wusste ich, dass ich kürzertreten muss, aber dass das Zuhören weiterhin wichtig bleibt. Also habe ich Menschen gesucht, die gemeinsam mit mir zuhören. Mittlerweile sind wir an die 20 "Ohren" und ein gemeinnütziger Verein. Montags bis freitags von 12 bis 18 Uhr ist immer jemand da und hört zu.

Offenbar ist der Redebedarf der Menschen sehr hoch. Was verrät das über unsere Gesellschaft?

Wir leben in einer Glücksgesellschaft. Wir sollen unbedingt glücklich sein oder wenigstens so tun. Wer Glück hat, darf das überall erzählen. Wer unglücklich ist, ein Unglück erfahren hat und enttäuscht ist, traut sich nicht, das zu erzählen: Ich kann doch nicht einfach sagen, ich sei unglücklich. Das will keiner hören. Wir sind unheimlich gut darin, uns und anderen etwas vorzumachen, auch mit Hilfe der sozialen Medien. Wir haben die Mittel der Werbung übernommen und stellen uns so dar, als wären wir pausenlos happy.

Unsere Gäste aber haben den Vorteil, dass sie anonym bleiben können. Das heißt, sie können uns alles anvertrauen, ohne Angst, dass es irgendwann gegen sie verwendet werden könnte. Nicht weil wir besonders vertrauenswürdig wären. Nein, sie müssen uns schlicht nicht wiedersehen. Die mögliche Anonymität motiviert viele Leute, uns etwas zu erzählen, was sie sonst für sich behalten.

Sie wissen also in der Regel nichts über die Identität Ihrer Besucher?

Das entscheiden unsere Gäste. Wenn jemand seinen Namen für sich behalten möchte, ist das völlig in Ordnung. Ich frage dann aber nach einem Pseudonym, das ich ansprechen kann, damit die Kommunikation einfacher wird. Wenn sich jemand Willy Brandt nennt, ist natürlich die Frage: Warum Willy Brandt? Und schon gibt es einen ersten Anknüpfungspunkt.

Über welche Themen wollen Ihre Gäste mit Ihnen sprechen?

Die Themen sind so verschieden wie die Menschen. Die meisten Menschen erzählen etwas aus ihrem Leben. Oft geht es um Kindheitserfahrungen, die sie immer noch verarbeiten. In den Medien wird momentan viel über Einsamkeit gesprochen. Aber zu uns kommt niemand und sagt, ich bin einsam, sondern unsere Gäste erzählen konkret. Zum Beispiel, dass sie in dem Haus, in dem sie wohnen, eigentlich niemanden kennen. Die Menschen fassen ihre Sorgen nicht abstrakt, sie erleben sie.

Hören Sie nur zu oder geben Sie auch Rat?

Oft kommen Menschen zu uns, die uns Geschichten anvertrauen, die sie vielleicht nicht einmal ihren Ehepartnern oder ihren besten Freunden erzählen. So entsteht für diesen Moment, für diese Begegnung eine große Nähe. Ich bin dann für diesen Moment ein "fremder Freund", wie ich es nenne. Dann reagiere ich eben auch fast, wie ein Freund es täte. Aber sehr, sehr vorsichtig.

Die Gruppe der Zuhörerinnen und Zuhörer setzt sich ja ganz unterschiedlich zusammen. Als ich mir den Kiosk angesehen habe, traf ich auf eine 29-jährige Frau, mit der ich natürlich anders sprechen würde als mit einem 69-jährigen Mann. Da spielen Lebenserfahrungen und Interessen eine Rolle.

Das ist richtig. Wir sind unterschiedlich vom Alter her und in unseren Lebenserfahrungen. Und das ist gut so. Unsere Gäste bringen ja auch unterschiedliche Lebensgeschichten mit. Außerdem ist Zuhören nicht nur ein Geben, wie es oft scheint. Zuhören ist auch Nehmen. Teilnehmen an Gefühlen und Erfahrungen derer, denen wir zuhören. Ein gutes "Ohr" weiß deshalb, warum es zuhört, was es selbst davon hat. Wir hören alle auf unsere ganz persönliche Art zu. Wie wir es im Leben gelernt haben. Und wir lernen dazu.

Es ist großartig, dass wir immer mehr junge Leute in unserem Team haben. Zum Beispiel Studentinnen und Studenten aus dem sozialen Bereich, die im Kiosk Erfahrungen sammeln und dadurch ermutigt werden, einen solchen Beruf später auch auszuüben. In der praktischen Erfahrung bei uns überwinden sie Ängste, die bei Gesprächen über belastende Themen entstehen können.

Sie haben den Zuhör-Kiosk nicht aus altruistischen Gründen eröffnet. Sie sind Drehbuchautor und wollten Stoff für Ihre Geschichten finden. Können Sie die Geschichten Ihrer Gäste in irgendeiner Form für Ihre Arbeit nutzen?

Tatsächlich habe ich während des ersten halben Jahres viele Gespräche aufnehmen und auch Fotos von den Gästen machen dürfen. Das ging auch durch die Presse: Da sitzt ein Verrückter in der U-Bahn-Station und hört fremden Leuten zu. Verlage fanden das toll und haben mir auch gleich Buchverträge angeboten. Im Laufe des Zuhörens habe ich mich aber immer weiter von der Absicht entfernt, die Geschichten journalistisch zu verwerten. Weil es nicht mehr passte. Wenn ich empathisch zuhöre, sitzt Du ja nicht einfach einer Geschichte und einem Gefühl gegenüber. Ich bin selbst berührt. Ich teile die Gefühle. So habe ich viel auch über meine Gefühle gelernt. Und über die Kraft unserer Gefühle für unsere Entscheidungen.

Darum habe ich einem Verlag, mit dem ich einen Vertrag hatte, mitgeteilt, dass ich das geplante Buch nicht mehr schreiben wollte. Seither arbeite ich an einem Buch über meine Gefühle und die Bedeutung unserer Gefühle für unsere Selbstbestimmung. Das ist ein großes Thema, denn wir Menschen entscheiden uns nach Gefühlen. Wir kaufen ja nicht einfach eine Hose, ein Auto und ein Spielzeug, sondern immer ein Gefühl. Dann komm ich mit der Hose nach Hause und merken bald, so lange hält das gekaufte Glück nicht. Warum habe ich jetzt diese Hose eigentlich gekauft, was soll das?

Fakt ist also, dass wir fast immer enttäuscht werden, dass die Gefühlsversprechen nicht erfüllt werden oder die getriggerten Gefühle schnell verfliegen. Wieder mal reingefallen! Trotzdem haben wir inzwischen das Shoppen an sich, den Kaufakt, zum großen Gefühl verklärt. Die spannende Frage ist also: Können wir unseren Gefühlen überhaupt noch trauen? Und wenn es uns schon schwerfäll, unseren eigenen Gefühlen zu vertrauen, warum sollen wir dann anderen und ihren Gefühlen trauen.

Im Zuhör-Kiosk liegt ein Büchlein mit der Aufschrift „Begegnungen“. Die junge Dame erzählte mir, dass die Zuhörer darin nach aufwühlenden Gesprächen ihre eigenen Gefühle festhalten können. Das ist ja eine knappe Form der Dokumentation. Wozu dient das Buch?

Das Buch dient der Übergabe im Kiosk und ist auch Gesprächsgrundlage für unsere vierteljährlichen Treffen. Wir halten fest, was im Kiosk passiert. Manchmal notieren wir auch einfach nur, dass heute niemand gekommen ist. Manchmal hilft es wiederum, sich Erlebtes von der Seele zu schreiben. Wir nennen aber nie die Namen unserer Gäste. Das Buch ist also ein Minimum an Kommunikation, dient aber nicht der Veröffentlichung.

Ihr Modell ist so erfolgreich, dass es mittlerweile in anderen großen Städten nachgeahmt wird – in München, in Berlin, in Basel, sogar am Busbahnhof in Neustadt in Schleswig-Holstein. In Hamburg hat sogar ein zweiter Zuhör-Kiosk in einem Einkaufszentrum in Bramfeld eröffnet. Was denken Sie darüber?

Das ist wunderbar. Eine Freude. Das Bewusstsein wächst, das Zuhören lebenswichtig ist, auch für die, die zuhören. Damit meine ich das offene Zuhören, das nicht bestimmte Zwecke verfolgt, sondern sich den Wünschen und Zielen dessen unterordnet, der etwas erzählen möchte. Übrigens – bei allem Lob, das das Zuhören gerade erfährt: Das Zuhören ist eigentlich der einfachere Part. Sich jemandem anzuvertrauen, sich zu öffnen, ist viel schwerer, als aufmerksam zuzuhören.


Zur Person

Christoph Busch, geboren 1946, war Messdiener, studierte Jura, war Taxifahrer, Antiquitätenhändler und machte freies Radio. Parallel dazu schrieb er, auch Hörspiele und Drehbücher. Zudem hat er immer mal Neues probiert, ohne zu wissen, wohin es führt.